Da es sich bei Digitalen Therapeutika um eine neue Kategorie von Produkten handelt, stellen manche dieser Risiken die Wirtschaftakteure vor neuartige Herausforderungen.
Digitale Therapeutika sind eines der Themen in der Life Sciences- und Healthcare Branche: Die Möglichkeiten reichen von digitalen Tagebüchern für chronisch erkrankte Patienten (z.B. digitales Diabetesmanagement) über KI-basierte Dosierungsempfehlungen, radiologische Bildauswertungen und Prognosen zu Krankheitsverläufen bis zu Software für das Monitoring von lebenswichtigen Körperfunktionen über mit Smart Devices verbundenen Biosensoren. Die Vielfalt solcher digitalen Technologien, die traditionelle Diagnostika und Therapien ergänzen oder sogar ganz ersetzen können, kann breiter kaum sein.
Laut einigen Analysten wächst der Markt für Digitale Therapeutika rasant. Er soll bis 2025 ca. 55 Mrd. US-Dollar erreichen. Es erstaunt daher wenig, dass neben den altbekannten Akteuren aus der Pharma- und Medizinprodukte-Branche auch neue Player wie Start-ups oder Tech-Giganten immer mehr in den lukrativen Markt Digitaler Therapeutika drängen. Gleichzeitig steigen auch die regulatorischen Anforderungen insbesondere an die Zulassung und den Nachweis eines klinischen Nutzens solcher Produkte.
Den enormen medizinischen und technischen Möglichkeiten, die Digitale Therapeutika für Patienten, Ärzte, Pflegekräfte und andere Gesundheitsdienstleister mit sich bringen, stehen besondere Herausforderungen und Haftungsrisiken etwa für die Entwickler, Hersteller, Importeure und Vertreiber („Wirtschaftakteure“) solcher Produkte gegenüber. Da es sich bei Digitalen Therapeutika um eine neue Kategorie von Produkten handelt, stellen manche dieser Risiken die Wirtschaftakteure vor neuartige Herausforderungen.
Die Vielzahl der Digitalen Therapeutika unterscheidet sich nicht nur mit Blick auf die jeweils beanspruchten klinischen Indikationen und technischen Leistungen der Produkte. Auch die regulatorischen Anforderungen und haftungsrechtlichen Risiken können im Einzelfall unterschiedlich sein.
Regelmäßig handelt es sich bei Digitalen Therapeutika um sog. Medizinprodukte. Dies sind Produkte mit medizinischer Zweckbestimmung, die vom Hersteller für die Anwendung beim Menschen bestimmt sind. Anders als Arzneimittel wirken sie nicht pharmakologisch, metabolisch und/oder immunologisch, sondern primär physikalisch. Auch Software (z.B. eine Gesundheits-App) kann ein Medizinprodukt sein, falls sie zu therapeutischen oder diagnostischen Zwecken für Menschen verwendet werden soll. Abzugrenzen sind Digitale Therapeutika von sog. Fitness-Apps, die z.B. die täglich gelaufenen Schritte aufzeichnen oder Kalorien zählen und kaum reguliert sind. Da solche Fitness-Apps meistens keinen spezifischen diagnostischen oder therapeutischen Nutzen im engeren medizinischen Sinne verfolgen, stellen sie regelmäßig keine Medizinprodukte dar. Sie unterliegen daher weniger strengen Anforderungen.
Nach der neuen europäischen Medizinprodukte-Verordnung („MDR“) werden Medizinprodukte risikobasiert in vier Hauptklassen unterteilt: I, IIa, IIb und III. Dies gilt daher auch für Digitale Therapeutika (Software). Je höher das Risikopotential für Patienten ist, umso höher ist die Klasse der Digitalen Therapeutika und damit die Anforderung an deren Zulassung als Medizinprodukt. Soll eine Digitale Therapeutik beispielsweise nur dazu dienen, dem Arzt bestimmte Daten über Patienten zu liefern, die die ärztliche Diagnose und/oder Therapie unterstützen sollen (z.B. digitales Schmerz-, Diabetes- oder Migränetagebuch), wird eine Einstufung generell in eine niedrige Risikoklasse (I oder IIa) erfolgen. Handelt es sich bei solchen Daten aber z.B. um durch Biosensoren am Körper von Patienten gemessene Vitalparameter (z.B. Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung), die unmittelbar in die ärztliche Entscheidungsfindung eingehen und durch etwaige Fehlfunktionen zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands des Patienten oder sogar zu dessen Tod führen können, erfolgt regelmäßig eine Einordnung des Produkts in höhere Risikoklassen (IIb, III).
Innerhalb der Gruppe der Digitalen Therapeutika gibt es eine besondere Kategorie von Produkten, die seit Kurzem in Deutschland von Ärzten, Zahnärzten und Psychotherapeuten auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen („GKV“) verordnet werden können („Apps auf Rezept“). Diese Produkte werden auch als sogenannte „digitale Gesundheitsanwendung“ („DiGA“) bezeichnet. Voraussetzung für die Registrierung einer DiGA ist unter anderem deren Einstufung als Medizinprodukt niedriger Risikoklasse (Klasse I oder IIa). Außerdem muss die Hauptfunktion der DiGA – z.B. die Unterstützung des Arztes oder des Patienten bei der Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten – wesentlich auf digitalen Technologien beruhen.
Die GKV übernimmt die Kosten für DiGA, wenn diese zuvor vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte („BfArM“) geprüft und in das Verzeichnis erstattungsfähiger digitaler Gesundheitsanwendungen („DiGA-Verzeichnis“) aufgenommen wurden. Damit es zu einer Aufnahme kommt, prüft das BfArM unter anderem die Compliance des Produkts mit medizinprodukterechtlichen Anforderungen gemäß MDR (u.a. CE-Zertifizierung, Sicherheit, Funktionalität), die Einhaltung von Datenschutz- und Datensicherheitsanforderungen sowie die Zugänglichkeit des Produkts für GKV-Patienten. Entscheidend ist auch die Relevanz des Produkts für das deutsche Gesundheitssystem im Sinne eines Nutzens, d. h. die positiven Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung, die der Hersteller durch klinische Studien belegen muss. Seit Ende 2019 – mit Inkrafttreten des Digitale Versorgung-Gesetz („DVG“) in Deutschland – sind bereits über 30 digitale Gesundheitsanwendungen (z.B. zur Unterstützung bei Depressionen, digitales Diabetesmanagement, Therapie gegen Angst, digitales Tinnitus Counseling) in das DiGA-Verzeichnis (vorläufig oder dauerhaft) aufgenommen und für die ärztliche Verordnung und Erstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen zugelassen worden. Damit ist Deutschland weltweit führend, was „Apps auf Rezept“ angeht.
Bei Digitalen Therapeutika handelt es sich um eine neuartige Kategorie von Medizinprodukten. Einschlägige Gerichtsentscheidungen zu Haftungsfragen – etwa die konkreten Anforderungen an den Nachweis eines klinischen Nutzens und der Sicherheit, die bei den Herstellern Digitaler Therapeutika für mehr Rechtssicherheit sorgen könnten, fehlen daher bislang.
Für alle Digitalen Therapeutika gilt aber grundsätzlich: Bei den Haftungsrisiken, die die einzelnen Wirtschaftsakteure treffen können, ist insbesondere zwischen der (beanspruchten) klinischen Indikation, technischen Funktionalität sowie Risikoklassifizierung der konkreten Digitalen Therapeutik zu differenzieren. Dabei richten sich Haftungsfragen vorrangig nach der Frage des einzuhaltenden Sorgfaltsmaßstabs. Grundsätzlich gilt, dass der Arzt für die Auswahl der Digitalen Therapeutik haftet und der Hersteller für deren Funktionalität einzustehen hat. Die erforderliche Sorgfalt der einzelnen Wirtschaftsakteure ist daher immer im Einzelfall und anhand der konkreten Digitalen Therapeutik zu bestimmen. Je stärker z.B. eine Gesundheits-App auf die Gesundheit ihres Nutzers (Patienten) einwirken kann, desto strengere Compliance, Sicherheits- und Haftungsmaßstäbe werden an das Produkt zu stellen sein. Soll die Gesundheits-App etwa den Arztbesuch (teilweise) ersetzen, z.B. durch Stellung einer medizinischen Diagnose, steigt der Sorgfaltsmaßstab.
Der Hersteller ist zunächst verpflichtet, seinen Aufklärungs- und Instruktionspflichten gegenüber dem Nutzer nachzukommen. Dies erfasst etwa geeignete Aufklärungsinformationen, die dem Nutzer vor Bereitstellung der App angezeigt werden. Dazu gehört auch, dass der Hersteller sicherstellen muss, dass für seine Digitale Therapeutik nur solche medizinischen und technischen Leistungen beansprucht werden, die sich aufgrund von klinischen Daten belegen lassen. An diese Pflichten werden umso höhere Anforderungen gestellt, je mehr die Digitalen Therapeutika ein ärztliches Handeln ersetzen sollen und/oder zu Schäden bei dem Nutzer führen können.
Mögliche Haftungsfälle können sich zudem im Grunde aus jeglichen Konstruktions-, Fabrikations- und Instruktionsfehlern bei Digitalen Therapeutika ergeben. Daneben kommt eine Haftung für Software- und Hardwarefehler in Betracht. Darüber hinaus ist gerade bei höchst sensiblen Gesundheitsdaten, die regelmäßig durch Digitale Therapeutika gesammelt und verarbeitet werden, die Gefahr von Cyber-Angriffen oder sonstigen Datenschutzvorfällen gegeben. Der Hersteller ist daher verpflichtet, das Produkt so zu konstruieren, dass Fremdzugriffe zumindest wesentlich erschwert werden. Generell können der Hersteller und andere Wirtschaftsakteure zudem datenschutzrechtlich nach der Datenschutz-Grundverordnung („DSGVO“) verantwortlich sein, was weitere Pflichten und Haftungsrisiken mit sich bringen kann.
Kommt es ausgelöst durch ein Versagen von Digitalen Therapeutika zu einer Schädigung von Nutzern, können den Betroffenen Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche zustehen. Für Personenschäden, die durch ein fehlerhaftes Produkt verursacht worden sind, haftet der Hersteller möglicherweise nach dem Produkthaftungsgesetz bis zu einem Höchstbetrag von immerhin 85 Millionen Euro. Darüber hinaus sind auch Regressforderungen der gesetzlichen Krankenkassen denkbar, etwa wenn eine technisch fehlerhafte DiGA ärztlich verordnet und von den Kassen erstattet worden ist.
Werden Digitale Therapeutika als Medizinprodukte höherer Risikoklasse (IIb, III) eingeordnet, kann dies im Einzelfall zusätzliche haftungsrechtliche Risiken bedeuten. Besteht bei Anwendung solcher Produkte ein hohes Schadenspotenzial und dadurch eine besondere Schutzbedürftigkeit von Patienten, kann für die Annahme eines Produktfehlers hier schon der bloße Fehlerverdacht genügen. Dies kann im Haftungsprozess zu Lasten des Herstellers gehen, falls er diesen Fehlerverdacht nicht widerlegen kann.
Bei den vom BfArM geprüften und erstattungsfähigen DiGA dürften die Haftungsrisiken hingegen regelmäßig überschaubarer sein. Denn Voraussetzung für die Registrierung dieser Gesundheits-Apps als DiGA ist die Einstufung als ein Medizinprodukt niedriger Risikoklasse (I, IIa). Doch selbst nach Durchlaufen des Prüfverfahrens auf Sicherheit, Funktionstauglichkeit und Qualität durch das BfArM kann nie ganz ausgeschlossen werden, dass es (vereinzelt) doch zu Fehlfunktionen bei den DiGA kommt, wofür im Zweifel Hersteller einzustehen hätten.
Um den möglichen Haftungsrisiken des Herstellers effektiv entgegentreten zu können, ist eine Partnerschaft mit einer auf diese Themen spezialisierten Haftpflichtversicherung geboten.
Bei Digitalen Therapeutika handelt es sich um eine neuartige Kategorie von Medizinprodukten. Einschlägige Gerichtsentscheidungen zu Haftungsfragen fehlen bislang.
In der Praxis sollten Wirtschaftakteure daher zunächst kritisch prüfen, ob die einzelnen beanspruchten Funktionen des Produkts bloß ein „Fitness-Feature“ darstellen oder aus regulatorischer Sicht bereits zu einer Einstufung als ein streng reguliertes Medizinprodukt führen (können). Außerdem ist für eine mögliche Haftung von Wirtschaftakteuren, deren Digitale Therapeutika als Medizinprodukt einzustufen sind, die Frage wesentlich, welcher konkreten Risikoklasse die Produkte zuzuordnen sind. Auf der anderen Seite könnten insbesondere überzeugende klinische Daten zum therapeutischen Nutzen einer Digitalen Therapeutik und die strikte Compliance mit MDR- sowie Datenschutz- und Datensicherheitsanforderungen Haftungsrisken minimieren.
Gerade die nicht zu unterschätzenden und bislang in der Rechtsprechung nur wenig thematisierten neuartigen Haftungsfragen im Zusammenhang mit Digitalen Therapeutika erfordern eine konkrete Analyse von möglichen Risiken und eine entsprechende Absicherung auf individueller Basis. Damit ein möglichst optimaler Versicherungsschutz gewährleistet ist, empfehlen wir einen detaillierten Austausch mit einem auf diese Fragen spezialisierten Versicherer.