ATMPs stehen für Innovation und Fortschritt in der Medizin. Aufgrund ihrer besonderen Komplexität und deren Herstellungsverfahren bringen ATMPs jedoch auch besondere Haftungsrisiken mit sich.
Was zunächst wie Science-Fiction klingt, wird zunehmend Realität: Krebs-Patienten werden Immunzellen (genauer: „T-Zellen“) entnommen und außerhalb ihres Körpers in biotechnologischen Verfahren genetisch so verändert, dass diese Immunzellen nach deren Verabreichung an die Patienten als Arzneimittel die spezifischen Krebszellen gezielt erkennen und bekämpfen können. Oder: bei Menschen mit seltenen, nicht heilbaren Erberkrankungen, werden – derzeit teilweise erst noch in klinischen Studien – ein oder mehrere Gene, die nicht richtig funktionieren, durch gezielte Genom-Editierung („Genom-Chirurgie“) entfernt oder ersetzt, um die entsprechenden Krankheiten zu heilen.
Diese bahnbrechenden Behandlungsmethoden, die oft die einzige Hoffnung für Betroffene darstellen, sind sog. „Arzneimittel für neuartige Therapien“ – auch „Advanced Therapy Medicinal Products“ oder kurz „ATMPs“ genannt. ATMPs sind Arzneimittel, die auf Genen, Geweben oder Zellen beruhen. Sie gehören zur personalisierten Medizin, da die Arzneimittel individuell auf die jeweiligen Patienten und deren Erkrankungen zugeschnitten sind. Die Forschung und Entwicklung von ATMPs ist für Pharmaunternehmen enorm kostenintensiv. Auch besteht ein erhebliches Risiko zu scheitern. Gelingt es Pharmaunternehmen jedoch, diese Produkte durch die strengen und langwierigen Zulassungsverfahren zu bringen, besteht erhebliches wirtschaftliches Potenzial. Immer mehr Pharma- und Biotech-Unternehmen setzen daher auf die ATMP-Karte und drängen durch eigene F&E, Kooperationen oder Unternehmenskäufe in den stark wachsenden Markt der ATMPs.
Analysten schätzen das Wachstum des weltweiten ATMP-Marktes bis 2026 auf ca. 30 Mrd. Euro. Einige dieser Arzneimittel haben das Potenzial zu einem sog. Blockbuster-Medikament, das jährlich mehr als eine Mrd. Euro Umsatz erzielt. Auf die gesamten biotechnologisch hergestellten Wirkstoffe (sog. „Biologika“ bzw. „Biologicals“), zu denen unter anderem auch ATMPs zählen, entfallen nach Berechnungen von Experten in der EU mittlerweile ca. 34 % der Arzneimittelausgaben. Im Jahr 2021 entsprach dies 78,6 Mrd. Euro. Weltweit soll der Markt der Biologicals im Jahr 2025 sogar 420,55 Mrd. US-Dollar erreichen.
Wegen der besonderen Komplexität von Biologicals, insbesondere ATMPs, und deren Herstellungsverfahren bringt der Biotec- Boom jedoch auch besondere Haftungsrisiken nicht nur für die Pharmaunternehmen, sondern im Prinzip für alle beteiligten Akteure in der gesamten Herstellungs- und Lieferkette mit sich. Diese sollen nachfolgend näher beleuchtet werden.
ATMPs gehören zu den Arzneimitteln und sind daher als solche reguliert: Arzneimittel sind – vereinfacht gesagt – Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die zur Anwendung im oder am menschlichen Körper zur Therapie, Prophylaxe oder Diagnose von Erkrankungen bestimmt sind. Dabei entfalten Arzneimittel – im Gegensatz zu Medizinprodukten (z.B. Wundpflaster, Herzschrittmacher), die primär physikalisch wirken – ihre physiologische Wirkung auf den Körper primär pharmakologisch, immunologisch oder metabolisch.
Je nach Art und Weise der Herstellung von Wirkstoffen, die in Arzneimitteln enthalten sind, können Arzneimittel darüber hinaus in synthetische oder biologische (Biologicals) Arzneimittel unterteilt werden: Synthetische Arzneimittel werden in chemischen Verfahren hergestellt und enthalten als Wirkstoff meist nur eine chemische Substanz oder eine Kombination aus wenigen chemischen Verbindungen. Zu den synthetischen Arzneimitteln zählt bspw. das bekannte Schmerzmittel Aspirin®. Biologicals, zu denen auch ATMPs gehören, werden hingegen in komplexen biotechnologischen Verfahren in lebenden Organismen wie Bakterien, Pilzen oder Zellen produziert. Bei solchen biologischen Wirkstoffen handelt es sich um Substanzen mit äußerst komplexer Struktur. Beispiele für Biologicals sind etwa Hormone (z.B. Insulin), Impfstoffe, rekombinante Wirkstoffe, monoklonale Antikörper sowie Zell- und Gentherapeutika.
Die ATMPs sind damit eine spezielle Art von Biologicals und lassen sich wiederum in drei Kategorien einteilen:
Einer der besonderen Vorteile von ATMPs liegt drin, dass diese individuell auf Patienten und die spezifischen Eigenschaften ihrer Erkrankung (z.B. des genetischen Fingerabdrucks eines Tumors) zugeschnitten sind.
Aktuell sind zehn Gentherapeutika, ein Zelltherapeutikum sowie zwei Tissueengineering-Produkte in der EU zugelassen. Die Forschung und die Anzahl der Studien im Bereich der ATMPs nimmt rasant zu. Knapp 3.000 Studien wurden weltweit schon durchgeführt oder dauern noch an. Zuletzt konnte Deutschland hier weltweit den vierten Platz belegen – hinter den USA, dem Vereinigten Königreich und China. Ab 2025 sollen jährlich 10-20 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur („EMA“) und/oder der US Food and Drug Administration („FDA“) zugelassene ATMPs hinzukommen.
Die Forschung und Entwicklung von ATMPs ist extrem anspruchsvoll und stellt pharmazeutische Unternehmer nicht nur vor besondere wissenschaftliche, biotechnologische und klinische Herausforderungen. Auch die rechtlichen Anforderungen an die Herstellung, Prüfung, Zulassung und Vermarktung von ATMPs sind besonders hoch. So gilt für Zell- und Gentherapeutika auf EU Ebene die spezielle EU-Verordnung für ATMPs (1394/2007/EG), die europaweit den strengen Rechtsrahmen u.a. für die Zulassung, Überwachung und Marktüberwachung von ATMPs festlegt.
Grundsätzlich werden ATMPs – wie alle in Deutschland und der EU neu zuzulassenden Arzneimittel – strengen Prüfungs- und Zulassungsverfahren unterzogen. Die Anforderungen sind bei ATMPs jedoch besonders hoch. Die notwendigen wissenschaftlichen Nachweise mit Blick auf die gesundheitlichen Nutzen und Risiken, insbesondere die Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und pharmazeutische Qualität, muss das pharmazeutische Unternehmen durch aufwändige klinische Studien (Phasen I bis III) darlegen.
Enthalten ATMPs menschliche Zellen oder Gewebe, die nicht innerhalb ein und desselben chirurgischen Eingriffs als autologes Transplantat, d.h. zur Rückübertragung auf dieselbe Person, gewonnen werden, sondern von einer anderen Person stammen, richten sich die Spende, Beschaffung und Testung der Zellen oder des Gewebes nach einer besonderen europäischen Richtlinie (2004/23/EG).
ATMPs haben nicht nur ein enormes Potenzial, Leben zu retten, sondern auch ein erhebliches wirtschaftliches Potenzial für pharmazeutische Unternehmen. So kostet ein bestimmtes Gentherapeutikum zur einmaligen Behandlung einer seltenen (erblichen) Augenerkrankung nach Angaben des US-amerikanischen Herstellers ca. 350.000 Euro – pro Auge. Damit steht es aber noch lange nicht an der Spitze der hochpreisigen ATMPs. Für ein anderes Gentherapeutikum, das zur Behandlung der erblich bedingten Bluterkrankung Thalassämie u.a. in der EU zugelassen ist, liegen die Kosten bei ca. 1,5 Mio. Euro pro Behandlung. Der Preis für das bislang teuerste in den USA zugelassene ATMP liegt sogar bei ca. 2 Mio. US-Dollar.
Die Kosten für Zell- und Gentherapien können so weltweit auch zu einer finanziellen sozialen und ethischen Herausforderung für Gesundheitssysteme werden und sind daher teilweise auch Gegenstand kontroverser Diskussionen. Daher sehen sich einige pharmazeutische Unternehmen veranlasst, für ihre ATMPs innovative Pricing-Modelle zu entwickeln. So bieten manche Unternehmen, insbesondere in den USA, den Krankenkassen für ihre hochpreisigen ATMPs alternative Bezahlmodelle an, die sich z.B. am Behandlungserfolg des ATMP orientieren („Pay for Outcome“).
ATMPs stehen zweifelsohne für Innovation und Fortschritt in der Medizin. Aufgrund ihrer Komplexität und den besonderen wissenschaftlichen, klinischen und biotechnologischen Herausforderungen im Rahmen ihrer Forschung, Entwicklung und Herstellung bringen ATMPs jedoch auch neue und bislang im Wesentlichen ungeklärte regulatorische und haftungsrechtliche Fragestellungen mit sich.
Bspw. kann bei ATMPs der Anwendungsbereich der strengen arzneimittelrechtlichen Vorgaben zur Herstellung von Wirkstoffen sehr weit nach vorne verlagert sein. So kann die Entnahme von Tumorgewebe und anderen biologischen Materialen bei Krebs-Patienten durch den behandelnden Arzt, welches die Grundlage für die Herstellung eines personalisierten Tumor-Impfstoffes (Zelltherapie) für diesen Patienten darstellt, bereits dem streng regulierten Bereich der Arzneimittelherstellung unterfallen. Dies kann zu einer Ausweitung von Haftungsrisiken führen.
Während der Arzt und/oder das Krankenaus in der Regel für die Stellung der richtigen Diagnose und anschließende Auswahl des passenden Arzneimittels für den Patienten haften, ist in solchen Fällen – insbesondere bei der Behandlung mit ATMPs – auch eine Haftung des pharmazeutischen Unternehmers grundsätzlich möglich. Denn grundsätzlich gilt, dass derjenige, der ein Arzneimittel unter seinem Namen in den Verkehr bringt (pharmazeutisches Unternehmen), für die Sicherheit und Qualität des Arzneimittels einzustehen hat. Neben dem pharmazeutischen Unternehmen können im Einzelfall auch der Hersteller, die Zulieferer von biotechnischen „Zutaten“ und Technologien, der Großhandel oder die Apotheken wegen der Verletzung individueller Verkehrs- und Sorgfaltspflichten haften.
Mögliche Haftungsrisiken können sich insbesondere aus Entwicklungs-, Herstellungs- und/oder Instruktionsfehlern ergeben. Grundsätzlich obliegt es dem pharmazeutischen Unternehmer, zu beweisen, dass die aufgetretenen schädlichen Wirkungen des Arzneimittels ihre Ursache nicht im Bereich der Entwicklung und Herstellung haben.
Ein Entwicklungs- oder Herstellungsfehler kann bei ATMPs vorliegen, wenn schädliche Wirkungen auftreten, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen und die ihre Ursache in der Entwicklung oder Herstellung haben. Dies kann andererseits ausgeschlossen sein, wenn die schädlichen Wirkungen auf Umständen beruhen, die erst nach dem Inverkehrbringen des Arzneimittels eingetreten sind. Wie für alle Arzneimittel gilt auch für ATMPs, dass es nahezu keine Wirkstoffe ohne Nebenwirkungen gibt und diese bei ausreichendem Nutzen des jeweiligen Arzneimittels hingenommen werden müssen. Auf diese ist in der Gebrauchs- und Fachinformation ordnungsgemäß hinzuweisen. Patienten nehmen in der Regel auch schwere Nebenwirkungen umso mehr in Kauf, je schwerwiegender ihre Erkrankung ist, je unzureichender die verfügbaren Therapiealternativen sind und je höher die Wahrscheinlichkeit eines Therapieerfolgs mit einem neuartigen Wirkstoff sind. Gerade bei ATMPs, die in der Regel bei lebensbedrohlichen Erkrankungen zur Anwendung kommen, eine hohe Wirksamkeit versprechen und oft die einzige Hoffnung für Betroffene darstellen, dürften diese Voraussetzungen fast immer vorliegen.
Im Bereich der Instruktionsfehler können falsche oder unzureichende Angaben des pharmazeutischen Unternehmers in den entsprechenden Fach- und Gebrauchsinformationen zu einer Haftung führen. Die Hinweise in den Fach- und Gebrauchsinformationen haben dabei nach dem jeweils aktuellen Stand medizinischer Erkenntnisse bei Inverkehrbringen der konkreten Charge des Arzneimittels zu erfolgen. Da ATMPs in der Regel personalisierte Arzneimittel sind, können jedoch die Nutzen und Risiken von Patient zu Patient individuell verschieden sein. Dies kann mitunter haftungsrechtlich für den pharmazeutischen Hersteller kritisch werden, falls dies dazu führt, dass Nutzen und Risiken des jeweiligen ATMPs nicht richtig in der Gebrauchs- oder Fachinformation erfasst sind.
Ein weiteres Haftungsrisiko für die pharmazeutischen Unternehmer, Hersteller, Lieferanten und Großhändler kann beispielsweise die sog. Pharmakovigilanz darstellen, also die Pflicht zur laufenden und systematischen Überwachung der Sicherheit von ATMPs nach Markteinführung. Oft können die ATMPs andere, neue und auch höhere Risiken aufweisen als klassische Arzneimittel. Daher sind die Anforderungen an die kontinuierliche Beobachtung von ATMPs insbesondere mit Blick auf Komplikationen besonders hoch. Bei Hinweisen auf bislang unbekannte Neben- und Wechselwirkungen oder sonstigen neuen Erkenntnissen oder Informationen bzgl. Gesundheitsgefahren betreffend die ATMPs müssen die Beteiligten angemessene Maßnahmen treffen. So kann die Missachtung von Warn- und Rückrufpflichten ein Haftungsrisiko begründen.
Das Arzneimittelgesetz („AMG“) sieht in seinem § 88 eine hohe Haftungshöchstsumme in Höhe von 120 Mio. Euro im Falle der Tötung oder Verletzung mehrerer Menschen durch dasselbe Arzneimittel vor. Um diesen möglichen Haftungsrisiken effektiv entgegenzutreten, ist eine Partnerschaft mit einer auf diese Themen spezialisierten Haftpflichtversicherung geboten.
ATMPs – und generell Biologicals – haben mit ihrem enormen Potenzial, schwere Krankheiten zu lindern oder sogar zu heilen, einen radikalen Wandel im Life-Sciences Sektor in Richtung personalisierte Medizin bewirkt.
Daher verwundert es nicht, dass es sich die EU-Kommission mit dem am 25. November 2020 von allen Mitgliedsstaaten angenommen EU-Pharma-Strategie Plan („Pharmaceutical Strategy for Europe“) u.a. zum Ziel gesetzt hat, neben dem ATMP-Aktionsplan, der die Entwicklung und Zulassung von ATMPs fördern soll, regulatorische Rahmenbedingungen für ATMPs zu schaffen, die allen europäischen Patienten den Zugang zu ATMPs erleichtern. So soll die Stellung Europas als wichtiger Akteur bei ATMPs weiter ausgebaut werden und Europa bei der ATMP-Entwicklung weltweit wettbewerbsfähig bleiben.
In Zukunft ist daher in der EU mit verstärkten privaten und staatlichen Biotech-Investitionen und Forschungs-, Entwicklungs- und Herstellungsaktivitäten gerade im Bereich der ATMPs und Biologicals zu rechnen. Für die Pharmaindustrie bedeutet dies neben der Aussicht, betroffenen Patienten helfen zu können, und dem enormen wirtschaftlichen Potential auch besondere haftungsrechtliche Risiken.
Bei allen Vorteilen, die ATMPs sowohl Patienten als auch pharmazeutischen Unternehmen bieten, erfordern die Risiken und Haftungsfragen im Zusammenhang mit ATMPs eine konkrete Analyse möglicher Fallstricke und eine entsprechende Absicherung auf individueller Basis. Damit ein möglichst optimaler Versicherungsschutz gewährleistet ist, empfehlen wir einen detaillierten Austausch mit einem auf diese Fragen spezialisierten Versicherer.